Eindrückliches Tagebuch eines Nienstädter der im täglichen Kontakt mit seiner in der Ukrainischen Stadt Sumy lebenden Ehefrau steht

24. Februar 2022

(11:13 Uhr) Kätzchen - wie geht's dir dort? Die Nachrichten bei uns sind ein Alptraum. Es heißt, dass in 3 Tagen hier Russland sein wird.“

(Die Familiensprache meiner Frau ist Russisch. Sie versteht russische Nachrichten. Die Ukrainer achten auf die russischen Nachrichten, um zu wissen, was sie von dort erwarten müssen.)

25. Februar 2022

(15:34 Uhr) “Bei uns ist gerade die Sirene losgegangen.“

26. Februar 2022

(etwa 18 Uhr) Ich bin zu Hause. Sitze auf einem Teppich im Flur.“

27. Februar 2022

Telefonisch Kontakt: Sie lebt. Sie ist nicht verletzt.

28. Februar 2022

(12:00 Uhr)

Es gibt gerade eine Warnung vor einem Angriff.“

(18:40 Uhr)

In Sumy dauern die Kämpfe an.“

01. März 2022

Meine Frau berichtete mir, dass ihr Vater angerufen hat. Bei der geplanten Operation ihrer Mutter im Krankenhaus Luhansk gab es Komplikationen. Ihre Mutter ist auf der Intensivstation. Meine Frau kann jetzt nur ihren Vater in Luhansk anrufen. Die Verbindung ist schlecht. Die Russen stören die Kommunikation.

(Diesen Inhalt gebe ich aus Rücksicht gegenüber den Gefühlen meiner Frau in meinen Worten wieder.)

(18:26 Uhr)

Gestern habe ich mich mit einer Freundin aus der Universität unterhalten. Sie lebt in Hirske im Oblast Luhansk.
Bei ihnen sind die ganze Zeit über Kämpfe. Jetzt ist es ein völliger Alptraum. Sie hat beschlossen wegzufahren, wollte zur Grenze, kam aber nur bis in die Zentral-Ukraine und sagt, dass sie unter Beschuss geraten ist.
Flugzeuge kamen und warfen Bomben. Sie war das Ziel. Sie möchte nicht mehr weiterfahren. Und meine Bekannten sind irgendwie aus Kharkiv hinaus und Richtung Ungarn gefahren, aber noch nicht angekommen.“

02. März 2022

(12:50 Uhr)

Ich erwachte heute vom Lärm der Explosion und Sirene um 7 Uhr morgens, saß im Flur, dann um 7:40 Uhr hat Papa angerufen und hat gesagt, dass man Mama auf die normale Station verlegt hat.

Gestern konnte ich nicht schlafen, war sehr in Sorge.

Nach 9 Uhr morgens habe ich ein bisschen geschlafen, der Kopf schmerzt, aber meine Stimmung ist natürlich besser.“

03. März 2022

Erster und einziger Kontakt an diesem Tag:

(22:16 Uhr)

Kätzchen, bei uns ist alles abgestellt. Es gibt weder Strom noch Wasser, unklar wie lange. Ich werde nur selten schreiben. Auf meinem Handy ist der Akku schon niedrig.“

04. März 2022

(15:30 Uhr)

Sie hat wieder Zugang zu Wasser und Strom.

05. März 2022

(13:18 Uhr)

„Ich habe schon seit 4 Uhr morgens nicht geschlafen, bei uns ist es heute sehr unruhig.

Die ganze Zeit Sirenen. Sirenen und Flugzeuge waren zu hören.

Explosionen.“

06. März 2022

(00:28 Uhr)

Kätzchen, was denkst du: Schließen sie den Luftraum über der Ukraine?“

Ich habe ihr erklärt, warum das nicht passieren wird.

Sie sagte nichts.

07. März 2022

kein Eintrag

08. März 2022

(14:34 Uhr)

„Heute ist Feuerpause von 09 bis 21 Uhr. Der humanitäre Korridor ist geöffnet für

- Ausländer

- Invaliden

- Waisen

- Schwangere

- mit Kindern.“

Ich fragte nach: Es sind auch nicht alle Kinder hinausgekommen. Zuerst nur Großfamilien mit vielen Kindern. Es sind einfach zu viele Menschen. Sumy hat offiziell 270.000 gemeldete Einwohner. Tatsächlich sollen nach Einschätzung meiner Frau fast 500.000 Menschen in der Stadt gelebt haben. Selbst wenn wir 270.000 annehmen und an einem Tag 5.000 hinausbringen, brauchen wir mindestens 50 Tage.

(16:11)

„Es heißt, dass es schon Beschuss gab.“

Ich fragte, ob sie Mariupol meint. Nein, Sumy. Am Ende des Tages kamen hier Menschen heraus. In der Tagesschau habe ich dann erfahren, dass der Korridor bei Sumy „funktionierte“. Ein dehnbarer Begriff.

09. März 2022

(22:05 Uhr) „Kätzchen, wie geht’s dir dort?“

„Es gab Alarm. Flugzeuge.

Ich saß im Flur.

Normalno. (In Ordnung.)

Wie geht’s dir dort?“

10. März 2022

(17:46 Uhr)

„An Nahrungsmitteln und Wasser habe ich prinzipiell schon Vorräte angelegt. Nun, in Geschäften gibt es auch nicht mehr wirklich etwas zu kaufen.“

11. März 2022

(21:36 Uhr)

„Kätzchen, es gab viele Sirenen.

Und ich habe Explosionen gehört.

Aber man weiß noch nicht wo und was getroffen wurde.

Und es gibt noch schlechte Nachrichten:

Russland sagt, dass in der Kinderklinik in Sumy Terroristen sind – das heißt, sie werden sie bombardieren wie die Geburtsklinik in Mariupol.“

12. März 2022

(13:33 Uhr)

„Sowohl gestern als auch heute gab es Explosionen, aber es ist bekannt, dass es nur dem Wasser galt.“

(Sie meint: Wenigstens nicht der Kinderklinik. Noch nicht zumindest.)

„Und mit dem Internet stimmt etwas nicht.

WiFi funktioniert gar nicht.

Mobilfunk ist sehr langsam.“

13. März 2022

(22:19 Uhr) „Gibt es den humanitären Korridor noch?“

„Nein.“

„Also sind noch viele Menschen in Sumy?“

„Jaa, natürlich.“

14. März 2022

(21:39 Uhr)

„Meine Tante aus Russland denkt, dass in einer Woche alles beendet ist. Russland schafft Ordnung.“ (Smiley: Sie schlägt sich vor den Kopf.)

(21:40 Uhr)

„Nun, schön wäre es natürlich, wenn es in einer Woche aufhören würde.“

15. März 2022

(22:12 Uhr)

„Alarm.

Das Internet ist schon 2 Tage schlecht.

Strom ist da.

Wasser schlecht.“

16. März 2022

(14:02 Uhr)

„Nun, Marodeure gibt es ganz sicher.

Meine Bekannte sagte mir heute, dass sie in eines der Dörfer bei Sumy kamen. Sie waren hungrig. Suchten Essen.“ (Russische Soldaten)

(21:28 Uhr)

„Bei uns gab es gerade Alarm, als du angerufen hast.“

17. März 2022

(22:10 Uhr)

„Ich bin bis jetzt im Flur.

Noch immer Alarm.

Explosionen waren zu hören.“

18. März 2022

(17:17 Uhr)

„Ich bin in Ordnung, aber in Sumy brennt heute etwas; sie sagten, man solle nicht hinausgehen und die Fenster nicht öffnen.“

(17:22 Uhr)

„Ich habe mich schon bemüht, möglichst nicht hinauszugehen, weil es gestern eine Bekanntmachung gab, dass Streubomben geworfen wurden.

Ich bleibe in der Nähe, 200 Meter vielleicht.“

„Vor der Warnung bin ich einkaufen gegangen, kaufte Wasser und Hühnchen. Das gab es schon 20 Tage lang nicht. Abgesehen von lebenden Hühnern, aber ich bringe es nicht fertig, sie zu schlachten.“

Ich erwähnte, dass ich in Berichten gesehen habe, dass gezielt Menschen angegriffen wurden, die für Brot angestanden haben.

„Jaaa.

In Luhansk war das schon 2014 passiert. Zum Glück war ich nicht in der Nähe.

Auch für Wasser, wenn sie es brachten, weil es zu Hause kein fließendes Wasser gab.

Ich fülle deswegen alle leeren Flaschen vom Wasserhahn.

Für alle Fälle.“ (Meine Frau erlebt alles zum zweiten Mal. Wenigstens ist sie so etwas wie ein Veteran unter den Zivilisten. Sie weiß, was sie tut.)


Anmerkung: Wenn die Stadt Lebensmittel verteilt, müssen die Einwohner auf die Straße.

19. März 2022

(16:56 Uhr)

„Kalt zu Hause.

In der Stadt ist es ruhig.“

(17:18 Uhr)

„Kätzchen, was denkst du, wird es lange dauern?“


20. März 2022

(14:51 Uhr)

„Heute Morgen gab es Alarm, aber ich habe geschlafen und es nicht gehört.“

21. März 2022

(15:40 Uhr)

„Heute habe ich fast überhaupt nicht geschlafen. 2 Mal habe ich mich furchtbar erschreckt, fiel vor Schreck aus dem Bett. Sehr heftig waren die Explosionen. Und am Morgen gab es die Meldung, dass durch ein Leck Ammoniak bei der Chemiefabrik austritt. Ich bin überhaupt nicht hinausgegangen. Ich fühle mich heute nicht wohl, bin müde.

Wie geht es dir, mein Kätzchen?“

(16:40 Uhr)

Meine Frau sendet mir ein GIF. So meldet sie sich meistens.

Ich antworte in derselben Minute. Ich frage, wie es ihr geht. Keine Verbindung. Warten.

(00:09 Uhr, schon 22. März)

„Normalno (In Ordnung). Es gab Alarm und Explosionen irgendwo.“

22. März 2022

(19:32 Uhr)

„Ich bin krank. Die Nacht war unruhig, habe tagsüber geschlafen.“

(19:47 Uhr)

„Oh, meine eine Tante, die Schwester meiner Mutter! (Russin und in Russland)

Gestern hat sie meiner Mama gesagt, dass es ein Alptraum ist: Die Ukrainer hätten die Chemiefabrik in Sumy gesprengt.“ (Smiley: Sie schlägt sich vor den Kopf)

„Und dass die Ukrainer generell alles sprengen, damit den Russen nichts bleibt.“ (Sie schlägt sich wieder vor den Kopf) „Meine Mutter ist im Alptraum, wenn sie so etwas hört.“

(19:53 Uhr)

Es gibt sehr viele Beispiele, dass russische Soldaten ihre Eltern angerufen haben und diese ihnen nicht geglaubt haben. Das ist furchtbar! Und sie waren verwundert über deren Reaktion. Es war, als hätten sie einen Filter für die Wahrnehmung von Informationen und Wirklichkeit. Ich glaube, dass das schon Mentalität ist.“ (Sie kennt das von ihren russischen Verwandten, muss man dazu sagen.)


23. März 2022

(13:18 Uhr)

„Wie fühlst du dich heute?“

(13:42 Uhr)

„Nicht wirklich gut.

Schwach.

Starke Kopfschmerzen am Morgen.

Ich glaube, in der Nacht hatte ich Fieber.“

24. März 2022

(19:27 Uhr)

Wie geht’s dir, Kätzchen?

(19:37 Uhr)

„Mein Kopf tut auch heute noch weh.“

Und wie ist die Lage in Sumy?

„Ringsum Kämpfe.“

Das Geld, das ich ihr überwiesen habe, ist angekommen. Vor 8 Jahren in Luhansk konnte ich kein Geld in Kriegsgebiete überweisen. Schön, dass sie es geändert haben. Das trifft nämlich die Falschen.

Meine Frau schickt mir einen Bericht von Radio Svoboda (Radio Freiheit). Wladimir Medinskij, bis 2020 Kulturminisster und immer noch Mitglied von Putins Partei, benutzte die Phrase: „Auf dem Spiel steht jetzt die Selbstverteidigung Russlands.“ Die Phrase würde laut Bericht an eine russische Doktrin für den Einsatz von Nuklearwaffen erinnern.

Ich teilte meiner Frau mit, dass die NATO gerade heute genau darüber und über den möglichen russischen Einsatz von Chemiewaffen in der Ukraine debattiert.

(21:01 Uhr)

„Ich verstehe, Kätzchen.

Das ist natürlich nicht erfreulich.

Ich bin sehr beunruhigt, habe Angst.“

(23:01 Uhr)

„Ich habe keinen Strom.“

(23:12 Uhr)

„Kätzchen, heute gab es den ganzen Tag Probleme mit Strom und Internet.

Ich fühle mich krank.

Wie geht’s dir?“

26. März 2022

(22:08 Uhr)

„Kätzchen, es gab Alarm, das Internet wollte heute überhaupt nicht arbeiten.

Ich bin in Ordnung, fühle mich besser. Wie geht’s dir dort?“

Ich fragte nach Strom.

„Strom, ich erzähle dir dazu was! Der Strom war ausgefallen, weil man ein Kabel und den Schalter herausgezogen hat.“ (Sabotage)

Ich fragte nach Kämpfen.

„Es heißt, dass heute viele um Sumy herum stattgefunden haben. Aus Trostyanets hat man sie (erg. die Russen) vertrieben.“

(Die Stadt liegt südlich von Sumy.)

„Aber es gab eine Warnung, dass der Feind chemische oder atomare Waffen einsetzen könnte. Wenn sie darüber sprechen, werde ich nervös.“

Sie berichtet über die Versorgung in Sumy

(22:16 Uhr)

„Alles ist sehr teuer. Bis zu 5 Mal teurer als üblich. Auf dem Markt und in Geschäften. Aber Waren gibt es nur wenige – von allem. Da, wo es Schlangen gibt, stehe ich nicht an. Das ist besonders bei Brot und Wurst so. Wurst ist eigentlich ganz aus. Deswegen gibt es gewaltige Schlangen, wenn es mal welche gibt. Das macht mir nichts, Wurst kann ich später wieder essen. Ich habe heute Pepsi, ein paar Kilo Äpfel, 3 Bananen (die sind jetzt unglaublich teuer) und Hering gekauft. Käse auch. Einfach weil es viel Käse im Geschäft gab.“

27. März 2022

(14:36 Uhr)

„Kätzchen - wie geht’s dir dort? Bei uns liegt Schnee.“

Ich war mir nicht ganz sicher, ob das eine gute Nachricht ist. So weit ist es gekommen. Meine Kurse sind bei der ersten Schneeflocke am Fenster. Ich sagte, dass es mir gut geht.

(18:52 Uhr) „Mir geht’s auch gut.“

Und sie zeigte mir über einen Link ein schönes Kleid in Blau und Gelb, den ukrainischen Farben.

„Schade, dass es von solchen Kleidern nur wenige gibt. Das haben sie schön entworfen.“

Ich sagte, dass es vermutlich der Anfang einer Kollektion ist. Es ist wirklich schön. Wenn sie hier ankommt, soll sie es bekommen.